Die Festspiele

Sie kommen von weither, die eingeladenen Künstler sowieso, aber auch etliche – mittlerweile kann man mit Fug und Recht sagen: zahlreiche – Besucher der »Stelzenfestspiele bei Reuth«. Denn wer einmal die vogtländische Festspielluft geschnuppert hat, der mag sie nicht mehr missen, hält sich das Wochenende im Frühsommer frei und wird Stammgast, ob nun Vogtländer oder von weiter her aus Dresden, Leipzig, Berlin oder direkt aus der Ferne aus Hamburg, München, Köln oder Wien

Im Anfang war die Idee

Eher bescheiden war die ursprüngliche Idee gewesen: Der aus dem 180 Seelen starken Dörfchen Stelzen im Vogtland stammende Gewandhausbratschist Henry Schneider wollte mit befreundeten Kollegen eigentlich nur ein kirchenmusikalisches Kammerkonzert in seinem Heimatort geben. Ein winziges Zeichen edler Einfalt und unentgeltlicher Güte sollte gesetzt werden in einer Gegend Deutschlands, die nach der Wende (und da hat sich, wenn man einmal von den Stelzenfestspielen absieht, bis heute nicht so viel verändert) in Sachen Kunst und Kultur von Gott und der Welt ziemlich verlassen schien. Gesagt und schließlich auch getan. Das Konzert fand in der Adventszeit 1992 statt, erntete großen Zuspruch und forderte hinfort jedes Mal, wenn Henry Schneider zu Hause in Stelzen war, die Frage heraus:»Wann macht ihr denn wieder mal so ein schönes Konzert?«

Eine befriedigende Antwort musste also gefunden werden. Es kam zu zahlreichen Zusammenkünften in einer Leipziger Gastwirtschaft, wo unter Zuhilfenahme inspirierender Getränke ein überschwängliches Wort das andere ergab. Schneiders nicht eben kleiner Freundeskreis zog mit und Kollegen vom Gewandhausorchester boten ihre Teilnahme an. Das nahm schließlich fast lawinenartige Ausmaße an, denen mit weiteren Kammerkonzerten nicht mehr beizukommen war. Die Idee wuchs und wuchs, und schließlich kristallisierte sich ein Festspielgedanke heraus. Auch ein Name für das Festival war schnell gefunden: »Stelzenfestspiele bei Reuth«.

Dieser Name, der sich geradezu zwangsläufig aus den örtlichen Gegebenheiten ergeben hatte (Reuth ist Stelzens Nachbardorf), entwickelte eine sonderbare Eigendynamik. Er ging den Beteiligten – neben Henry Schneider und seinen Musikerkollegen waren der Fotograf Gert Mothes und der Klanginstallateur Erwin Stache Männer der ersten Stunde – nicht mehr aus dem Kopf. Man war enthusiasmiert. Die künftigen Festspielmacher bekamen leuchtende Augen, wenn sie von ihren Plänen erzählten. Bisher noch nie Dagewesenes sollte das Vogtland und die angrenzenden Landschaften erschüttern, und nicht zuletzt wollte man den Beweis erbringen, dass man mit ganz kleiner Münze ganz große Kunst fabrizieren könne, wenn man denn vor Ideenreichtum, Begeisterungsfähigkeit und Liebe zu Musik und Kunst nur so strotze. 
Eine wolkenstürmerische Idee ist jedoch das eine, die praktische Umsetzung etwas ganz anderes. Da braucht man Fähigkeiten, die eher irdischer Natur sind. Und Henry Schneider, der dies sicherlich zum damaligen Zeitpunkt selbst noch nicht gewusst hat, besitzt die Fähigkeit, Leute mitzureißen, anzustecken und letztlich auch alle organisatorischen Fäden in den Händen zu halten, um dann das Festspielnetz ziemlich perfekt zu knüpfen.

Erfasst von einer wunderbaren Aufbruchsstimmung wurden aber nicht nur die Musiker. Auch die Dorfbevölkerung Stelzens, die schließlich über das Vorhaben in Kenntnis gesetzt wurde, war nach anfänglicher Skepsis (»eine Nummer zu groß für uns«, so die Einwände der Freiwilligen Feuerwehr) nicht bloß Feuer und Flamme, sondern bot vehement ihre Hilfe an. Im Stelzener Gasthof »Zum Löwen« jagte eine Sitzung die andere, denn es stellte sich schnell heraus, dass es für fast jeden Stelzener (und darüber hinaus auch für zahlreiche Festspielbegeisterte aus den Nachbardörfern) genug zu tun gab: Bühnen mussten gezimmert werden, Stromleitungen verlegt, Scheinwerfer installiert, die Festspielscheune ausgeräumt und hergerichtet, Hunderte von Stühlen und Bänken herbeigeschafft, Parkplätze geschaffen, Bier ausgeschenkt, Bratwürste gebraten und noch etliches mehr. Das (dank einer behördlichen Auflage) markanteste Bauwerk wurde in geradezu genialischer Weise erstellt. Eine akkurat vier Meter breite Rinne für das männliche Bedürfnis stand wie eine surrealistische Kreation Salvador Dalis stolz, einsam und unberührt in der malerischen Landschaft herum. Und auch die Skeptiker der Freiwilligen Feuerwehr rückten mit großen Wasserwagen aus, um dem Wald, wo inmitten auf einer malerischen Wiese das Große Konzert über die Bühne gehen sollte, Tag und Nacht die nötige Vorsicht angedeihen zu lassen. 
Die letzte Woche vor Festspielbeginn ruhte das gewohnte Leben im Dorf, während sich die Aktivitäten in Sachen Stelzenfestspiele überschlugen. »Ach, es war ein herrliches Bild,« so die Lehrerin Andrea Ott, »am Tag vor Festivalbeginn werkelte jeder noch an seinem Haus. Alles sollte tipptopp aussehen. Die Dorfstraße, festlich geschmückt mit Girlanden, wirkte wie geleckt. Bei uns im Haus nahmen Musiker Quartier, und die sollten sich wohl fühlen. Wir haben das Zimmer so schön hergerichtet, wie es eben nur ging.« Andere Damen des Ortes verbrachten die meiste Zeit am Küchentisch und kneteten Teig für den Festspielkuchen, der dann zum Dorffest gereicht wurde. Auch der Bautischler Andreas Bayer setzte seine überragenden Fähigkeiten in der »Kulinarik« ein: Er stand drei Tage am Bratwurststand und röstete die berühmten »Thüringer«, mit offenbar feinem Händchen und Langzeitwirkung. »Etliche Wochen später war ich in München,« erinnert sich Bayer, »um im Hofbräuhaus das bayerische Bier zu verkosten. Da trat plötzlich ein Einheimischer an mich heran und fragte: ›Bist du nicht einer aus Stelzen, und zwar der mit den Bratwürsten?‹ Ich wars. ›Mann, das war ein Mordsspektakel! Nächstes Jahr bin ich wieder dabei und rücke mit einer ganzen Truppe Musikspezies an, denen ich davon erzählt habe. Ich hoffe, Du machst das wieder mit den Würsten!‹«

Landmaschinensinfonien

In Sachen Kunst waren Schneider & Co. auf ein Konzept aus, das jeglichem Hauch elitären Hochkunstgebarens eine Abfuhr erteilte. Die einzelnen Genres wurden durcheinandergewürfelt und Experimenten Raum gelassen. Aber nicht um des Experimentes willen, sondern um der Musik einen Ausdruck, ja eine Botschaft mitzugeben, die von jedermann – sei er »Dörfler«, sei er »Städter« – intuitiv erfasst werden kann. Neben Musik von Barock bis Jazz gab es von Anfang an Performances und Ausstellungen. Das Große Abschlusskonzert mit den Musikern des Leipziger Gewandhausorchesters, dirigiert von John Roderick MacDonald, war ein Fixpunkt der Programmplanung. Genauso wie die Eröffnungsperformance, die als »Landmaschinensinfonie ST 210« buchstäblich um die Welt ging und beginnend mit den 2. Festspielen alljährlich mit neuer Versionsnummernfolge als frisch kreierte Uraufführung vermutlich das meistabgefilmte Neue-Musik-Ereignis der 90er Jahre in Deutschland war. Ob öffentlich-rechtlich oder privat, die Sender schickten ihre Kamerateams, die man wegen des großen Ansturms mittlerweile reglementieren muss. Das Fernsehen darf in Stelzen dabei sein, aber in der letzten Reihe. Das Konzert live ist das Ereignis, wer nicht dabei war, wird es auch am Bildschirm nicht gänzlich erfassen können.

Dieses geniale Bauern- und Bubenstück, das im wesentlichen vom Team Schneider & Stache komponiert und ausbaldowert wurde, bringt die Stelzener Festspielidee sicherlich am Vollendesten auf den Punkt. Das Wort Sinfonie wird hier in seiner ursprünglichen Bedeutung verstanden, nämlich als Zusammenklang. Das meint konkret das Zusammenspiel von klassischen Musikinstrumenten, modernem Rockinstrumentarium, Landmaschinen, Handwerksgeräten, Tierstimmen, abendlichem Waldesrauschen ... Und es meint auch das Zusammenspiel von hart arbeitenden Menschen aus dem Dorf, die auf Städter treffen, die die Musik zu ihrem Beruf gemacht haben. Da gab es im letzten Jahr beispielsweise den multispektakulären Satz »Die Melkmaschine«, in dem Live-Aktion (die Stelzenerin Monika Scheibe molk in echt, auf einem Schemel sitzend), Erzähl- und Geräuschparts (konzipiert von Herrn Helmut Lemke aus Bielefeld) sowie Videoaufnahmen aus dem Kuhstall miteinander kombiniert und ineinander verwoben wurden. Die »Gülleorgel« wurde im Quartett gespielt, und ganz am Schluss zündeten zwölf Raketen, um den Kfz-Mechaniker Gerald Kaiser aus Reuth anzukündigen, der Puccinis »Nessun dorma« in den Nachthimmel schmetterte, dass selbst kampferprobte Kritiker zum Taschentuche greifen mussten. So erfolgt ein Wechselspiel der scheinbaren Gegensätze. Einige Gerätschaften sind bereits legendenumwoben: etwa die bereits genannte »Gülleorgel«, die »Schaufelwasserdruckharfe«, die »Gitarrenwendemaschine« und nicht zuletzt der »Lanz-Traktor«, dessen knackig tuckerndes Geräusch jede »drum-machine« an »Lebendigkeit« weit in den Schatten stellt. So künden Namen der Instrumentgerätschaften von einer Kooperation zwischen Musik und Landwirtschaft, zwischen filigraner Handarbeit am Musikinstrument und festem Zupacken an Schaufel, Hacke und Sackheber. Zwischen Körper und Geist, zwischen linker und rechter Gehirnhälfte herrscht eine kreative Koexistenz [besser: Kooperation?]. Das ist ganzheitliche Rustikalkunst, der sich offenbar, wenn man die mittlerweile knapp 2 000 Zuhörer alljährlich beobachtet, niemand entziehen kann.
Neben den eigens komponierten Sinfonieteilen gibt es auch Zitate aus dem Weltmusikschatzkästlein, etwa wenn Gerald Kaiser mit sehr schön ungeschulter Tenorstimme »Nessun dorma«, »La donna è mobile« oder »O sole mio« singt. Am Schluss mündet, dies ist ein Fixpunkt bei allen Aufführungen, der sinfonische Landmaschinenreigen in ein wundersam flammendes Spektakulum. Solange der Vorrat an alten Pianos noch reichte, defilierte am Horizont ein tuckernder Traktor vorbei, der ein lichterloh brennendes Klavier nebst einem vor Sangeslust brennenden Tenor hinter sich herzog. Eine solche fast schon übermächtige Bildsequenz könnte aus einem ungedrehten Film von Fellini stammen, aber in Stelzen ist keine störende Leinwand dazwischengehängt, sondern das Ereignis in all seiner Pracht live und in echt zu erleben. Perfekte Einheit in der Vielfalt, das ist es, was diese Landmaschinensinfonie ausmacht. Nichts wird nivelliert, nichts gering geachtet, jedes Element bleibt für sich bestehen, und alles gehört doch zusammen und formiert sich, wenn die Vorstellung inspiriert durch ein prächtig mitgehendes Publikum besonders gut gelingt, zu einem einzigen großen Ganzen – eben einer »Sinfonie«. Hier wird eine Synthese versucht, die in einem Zeitalter der Spezialisten (wo jeder nur sein Ding macht und nichts davon versteht und sich meistens nicht einmal dafür interessiert, was der andere tut) quasi eine Gegenwelt vorführt. Das geht dann schon über die Musik hinaus, wie gute Musik immer über sich selbst hinausgeht, und zelebriert eine mustergültige Utopie des Zusammenklangs, die direkt ins Gesellschaftliche abstrahlt. Dass eine solche Utopie während der Aufführung der Landmaschinensinfonie nur zwei Stunden (und darüber hinaus die drei Festivaltage) andauert und dann wieder der so ganz andere Alltag greift, ist zwar bedauerlich, aber vielleicht für diesen und jenen hin und wieder auch Ansporn, im normalen Leben einmal etwas Ungewöhnliches zu wagen.

Die Bachwiese

Ganz »Ihm« gehörte das Jahr 2000: Johann Sebastian Bach. Sein 250. Todesjahr führte weltweit zu zahllosen Aktivitäten. Da konnten die Stelzenfestspiele nicht abseits stehen, und die Idee einer »Bachwiese 2000« wurde im Vorfeld, u. a. vom Nachrichtenmagazin Focus, als eines der interessantesten Projekte im Bachjahr tituliert.

Im Nachhinein bleibt zu konstatieren: Die Begeisterung kannte keinen Grenzen! Und das weltweit, denn via Internet hatten sich über 50 000 User aus 30 Ländern eine Woche lang unter der Adresse »www.bachwerk.de« eingeloggt und das Geschehen auf der Stelzener Bachwiese verfolgt. 170 Stunden lang gab es nonstop Bachs komplettes Werk in der Teldec-Gesamtaufnahme zu hören, also in Einspielungen von Nikolaus Harnoncourt, Ton Koopman, René Jacobs, Gustav Leonhardt und vielen renommierten Bachinterpreten mehr.

In der Sakristei der Stelzener Kirche wurde eine Tonanlage installiert, von dort aus Kabel in zwei 150 Meter entfernte Eichen verlegt, die mit Lautsprechern bestückt wurden. Pünktlich am 16. Juli 2000 um 21.15 Uhr begann mit Bachs beliebten Brandenburgischen Konzerten die Performance: »live« auf Wiese und zeitgleich im Internet. Dort gab es auch regelmäßig aktualisierte Fotos vom Wiesengeschehen und ein Tagebuch plus User-Forum, in dem die Ereignisse reflektiert wurden. Ein Auszug aus dem Bachwiesen-Tagebuch: »Heute früh herrschte Ruhe im Dorf, weder die Kühlschränke tuckerten, noch die Faxmaschinen ratterten noch Fernseher oder Radiogeräte blökten – aber die sagenhafte Bach-Musik (es gab jede Menge Kantaten) spielten aus dem Thüringischen bis ins sächsische Nachbardorf Reuth hinein. Wegen Reparaturarbeiten war in Stelzen der Strom für drei Stunden abgeschaltet worden, aber das Notstromaggregat für die Verstärkeranlage funktionierte, und die cleveren ›eWerk‹-Techniker fuhren den Computer rauf und runter. Niemand merkte etwas, die Ohren waren gespitzt, und das Labsal wurde nicht unterbrochen.

Eine andere Sache, die schon überraschte, war die plötzlich Ankunft von Jan Ullrich, dem Preisfahrer der Deutschen Telekom, der eigentlich zur Zeit bei der Tour de France aktiv ist. Tatsächlich sah der Radfahrer im lila Vollkostüm der Telekom wie unser Jan aus. Etwas näher betrachtet, verschwand zwar die Ähnlichkeit, aber das farbenfroh einprägsame Bild blieb. Mit einem Bein aufgestützt, das andere in der Pedale, blickte das erwachsene, strammwadige Lila in Richtung der Bacheiche, wo die Musik heraustönte. Der Telekom-Fahrer war hier ein Amateur, hatte frühmorgens in der Zeitung von der Bachwiese gelesen und sich flugs aufs Rad geschwungen, um von Greiz nach Stelzen zu eilen. Die Musik von Bach war der schöne Lohn für diese Kraftanstrengung. Etwa eine Stunde blieb das Lila vor Ort, dann schwang es sich wieder in den Sattel und flog auf den Flügeln der Musik nach Hause.« Gäste aus nah und fern Es dürften weit über tausend Künstler sein, die während der bisherigen neun Festspiele in Stelzen aufgetreten sind. Ganze Dörfer wurden kurzzeitig umgesiedelt, wie beispielsweise das ungarische Egyhazashetye, das 1995 u. a. mit einem Chor, einer Tanzgruppe und nicht zuletzt großartigen Kochkünstlern im Vogtland zu Gast war. Aus Belorussland waren die Kinder des Dorfes Saschirje 1999 in Stelzen zu Gast, die im Jugendfolkloreensemble Sonejka sich belorussischen Volksliedern, Spielen und Alltagstänzen widmen. Ihr Auftritt war insofern von herausragender Bedeutung, da ihre weite Reise von einer Leipziger Elterngruppe gesponsert wurde, die Kindern aus einem verstrahltem Gebiet (Saschirje liegt 100 Kilometer von Tschernobyl entfernt) einige unbeschwerte Tage im Vogtland schenkten. Ein Zeichen, dass die inzwischen von ideologischen Vorgaben befreite »Deutsch-Sowjetische Freundschaft« weiterlebt, was vor allem die Stelzener Bevölkerung zu würdigen wusste, denn die gesamte DDR-Zeit über betrieb die Rote Armee auf der an das Dorf angrenzenden Stelzenhöhe eine Radarstation. In Stelzen hatte man daraus das beste gemacht, war eine Art Symbiose eingegangen, an die man sich mittlerweile sogar gern erinnert. Sogar aus Übersee waren Musiker und Künstler nach Stelzen gekommen. Neben John Roderick MacDonald, der als Amerikaner in Leipzig im Gewandhausorchester die Solotrompete spielt und in Stelzen seiner zweiten Liebe, dem Dirigieren, als Leiter des Festspielorchesters nachkommt, waren auch etliche andere Amerikaner in Stelzen zu Gast. So der Trompetensolist Doug Myers (der 1994 in der Stelzener Kirche barocke Trompetenkonzerte spielte und der zu den diesjährigen Jubiläumsfestspielen erneut eingeladen wurde), die Sopranistin Luana DeVol (mittlerweile ein Weltstar, der es direkt von Stelzen bei Reuth bis nach Bayreuth geschafft hat!) und der Fotograf David Smith. Alle waren überschwänglich von Stelzen angetan, aber letzterer behauptete bereits am ersten Festspieltag: »It’s the most beautiful day of my life.« Was ja eigentlich kaum noch gesteigert werden konnte, doch nach Beendigung der Festspiele brach sich seine Begeisterung, die gleichermaßen der großen Qualität der dargebotenen Musik wie der Stimmung am Festspielort galt, noch einmal Bahn und David Smith verkündete hinein ins Mikrofon des Radiosenders MDR-Kultur: »These days have changed my life!« Künstlerische Höhepunkte Immer wieder in all den Jahren hat es auch künstlerische Überraschungen gegeben. In Stelzen konnte man mal etwas ausprobieren, was im konventionellen Konzertbetrieb eher kaum noch möglich ist. Im vorigen Jahr beispielsweise hat der Festivaldirektor Henry Schneider höchstselbst ein Instrument zum Klingen gebracht, von dem bis dato nur einige wenige Instrumentenforscher eine vage Kenntnis hatten. Die Rede ist von der Nagelgeige, auch Eisenvioline genannt – ein Instrument, das 1740 von dem deutschen Geiger Johann Wilde erfunden wurde und das sich ziemlich rasch in Europa verbreitet haben muss, denn es existierten englische (nail violin), französische (violon de fer) und italienische (violino de ferro) Instrumentenbezeichnungen.

Im Sommer 2001 wurde in der Stelzener Kirche die einzige erhalten gebliebene Originalkomposition für Nagelgeige (zumindest konnte bislang in den Archiven keine weiteres Werk ausfindig gemacht werden) aufgeführt, ein Quartett für Nagelgeige, zwei Violinen und Bass von Friedrich Wilhelm Rust, der in Diensten von Prinz Leopold Friedrich Franz von Anhalt Dessau gestanden hatte (und der Großvater des Leipziger Thomaskantors Wilhelm Rust war). 1787 war das Nagelgeigen-Quartett in Dessau uraufgeführt worden. Über 200 Jahre später spielte Schneider ein nach Originalvorlagen (aus dem Museum Basel) vom Leipziger Geigenbaumeister Mathias Ludwig gefertigtes Instrument, und das Publikum konnte sich vor Begeisterung kaum fassen. Schneider hatte ein halbes Jahr intensiv geübt, denn spieltechnisch hat die Nagelgeige enorme Tücken. Noch saß nicht jeder Ton perfekt, aber der Klang war von höchstem Sinnenreiz und überaus faszinierend. Mittlerweile in bereits drei Versionen hat »Sprengmeisters Nachtgesang« das Licht der Welt erblickt. Paul Fröhlich, staatlich geprüfter Sprengobermeister, ist der Erfinder und Macher der feuerintensiven Performance, die stets in Verbindung mit hehrer Kunst daherkommt. Fröhlichs »Trick« ist es, künstlerisch ambitionierte Frauen um sich zu scharen, die nicht schreckhaft sind. Inmitten seiner geräuschintensiven Feuerwerkskunst schrauben sich dann Melodien voll zarter Schönheit in die Lüfte – erzeugt etwa von der Gewandhaussoloflötistin Cornelia Grohmann, der Pianistin Sybille Stier oder der Sängerin Ute Eisenhut. Ein Mitternachtsvergnügen, das es nirgendwo außer in Stelzen gibt.

Erstmals 2001 war die Berliner Schauspielerin und Sängerin Winnie Böwe in Stelzen zu Gast, mit einem eigens für die Festspiele einstudierten Programm. Auch hier hätte der Jubel des Publikums in der Festspielscheune nicht größer sein können. Ihr Liederrecital (begleitet vom furiosen Uwe Lohse am Flügel) war eine Sternstunde vokaler Wahrhaftigkeit. Eisler, Weill und Konsorten, Lortzing und Nyman ertönten in Interpretationen, die alles klar machten. Winnie Böwe ist in diesem Fach die derzeit Beste, und das nicht nur in Stelzen. Und so ist sie in diesem Jahr wieder mit von der Partie.

Andere Namen, andere Ekstasen: Der Harfenist Kenn J. Ecury, der aus Malaga exklusiv nach Stelzen angereist war, bezauberte mit lateinamerikanischen Klängen. Er wurde so frenetisch bejubelt, dass er stehenden Fußes zu einem Nachfolgekonzert eingeladen wurde. Auch Markus Becker, Pianist aus Hannover, war bereits zweimal in Stelzen zu Gast. Mit den stets angekündigten »Goldberg-Variationen« ist es noch nichts geworden, aber Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung« spielte Becker gar prächtig auf einem Steinway (uneigennützig von Jutta Kirst aus Plauen zur Verfügung gestellt), um hernach straight zu jazzen. Auch von seinem Reger-Spiel (Markus Beckers CD-Edition mit dem Gesamtwerk ist mittlerweile abgeschlossen) war man in der Stelzener Festspielscheune höchst beglückt. Wo hätte der als etwas spröde geltendende Max Reger solcherart Reaktionen schon hervorgerufen? Die Programme des Stelzenfestspielorchesters, dem stets das Große Abschlusskonzert auf der großen Waldwiese vorbehalten bleibt, sind thematisch wohlgeordnet und streichen Jahr für Jahr einen gesonderten Aspekt heraus. Das mag irgendwie akademisch klingen, ist aber in der Praxis eher unterhaltsam. Was nur zum Teil daran liegt, dass es mal mehr und mal weniger ein Gesprächskonzert ist, wenn etwa der Dirigent John Roderick MacDonald und ein Experte wie der Münsteraner Zoodirektor Jörg Adler in charmanter Art die Werke nebst ihren Botschaften erläutern. Das ging es mal um Tiere, mal um die Natur, die Maschine, den Tanz ...

1995 beispielsweise hatte es folgendes Programm gegeben: eine »Toccata« für sechs Schlagzeuger von Carlos Chavez, Smetanas »Moldau«, Mozarts Konzert für Flöte und Harfe, das Posaunenkonzert des schwedischen Komponisten Lars Eric Larsson, Strawinskys »Feuervogel-Suite« und zum Abschluss Ravels »Boléro« mit der größten Kleinen Trommel, die je von einem Trommelbauer gebaut wurde. Das mit einem Traktor auf die Bühne transportierte, liegende Ungetüm mit stattlichen Maßen (anderthalb Meter im Durchmesser und fünf Meter Länge ) war auf der Stelzener Waldbühne Blickfang für Publikum und Fotografen gleichermaßen. Aber die Riesentrommel, erbaut von Thomas Wolf und gerührt vom Schlagzeuger des Leipziger Gewandhausorchesters Gerhard Hundt, war klanglich durchaus auch der Ravelschen Vorgabe gewachsen. Das galt sowohl für den leisen, kaum hörbaren Beginn des Boléros als auch für den orgiastischen Schluss mit dem strahlenden C-Dur: Pandämonium, das Publikum raste vor Begeisterung – Dirigent, Orchester und auch der Trommelbauer genossen die Ovationen. Damals waren es knapp 2 000 Zuhörer, mittlerweile erreicht das Große Abschlusskonzert bereits mehr als 5 000 Zuhörer, egal wie schlecht das Stelzener Sommerwetter auch sein mag.

Überhaupt war das Wetter in Stelzen von eigener Gestalt, ziemlich unberechenbar, meist regnerischer als sonstwo mit Ausnahme des Regenwaldes. Aber der Klimawandel hat auch in Stelzen Einzug gehalten, in den letzten Jahren herrschte tatsächlich eitel Sonnenschein. Mals sehen wie´s dieses Jahr wird, Gummistiefel und Regencapes sind jedenfalls im Merchandisingstall noch gehortet. Wie auch immer:

Happy Birthday, Stelzenfestspiele bei Reuth zum 15!

Geleitwort zum 15. Festival
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